Das Übel der Prosa ist nicht das Übel der Prosa

Zählen und leben, heisst es irgendwo bei Handke, und das ist, was Prosa macht. Sie zählt und lebt und das ist, was zählt und was lebt, wenn wir Prosa schreiben. Oder an Prosa denken. Das Ãœbel lassen wir hier mal beiseite, weil es nicht das der Prosa ist, sondern eine Art Heimweh, das die Prosa heimsucht und dann wird sie ganz eng und fürchtet sich, den Leser aus den Augen zu verlieren oder den Plot nicht im Griff zu haben, wo doch Augen und Griffe für ganz was anderes gebraucht würden beim Schreiben und Zählen von Prosa, die lebt oder der es ums Leben geht, was auch immer das sein mag. Aber wer das Leben nicht aufs Spiel setzt, gewinnt es auch nicht. Heimweh ist ein viel zu unterschätztes Ãœbel, das sich geschickt als Schönheit, Erfolg und Verkaufszahl tarnt. Heimweh heisst auf Französisch ‚mal du pays’. Und dieses ‚mal du pays’ oder ‚mal du prose’ meine ich, wenn ich das Ãœbel der Prosa, das nicht das Ãœbel der Prosa ist, nur ihr Heimweh, von dem sie manchmal heimgesucht wird, im Titel führe. Prosa und Heimweh sind etwas anderes und es bedarf einer Prosa, die zählt und lebt, um sich in ihr mit dem Heimweh ins Vernehmen zu setzen, das sie manchmal befällt und dann kriegt sie keine Luft mehr, weil sie immer nur nach Hause will, vor dem sie doch zugleich auch immer flieht.
Heimweh hat mit dem Unheimlichen zu tun, und mit dem Unheimlichen können wir nicht einfach so reden, weil wir es sozusagen ja schon tun, nur darf es keiner merken, wir selbst auch nicht, und das ist dann die Angst, den Leser zu verlieren, die nichts mit der Prosa zu tun hat.

Wer Angst hat und nicht schlafen kann, wir kennen es alle, fängt an zu zählen, Schafe, Wolken, Autos und warum nicht auch Wörter und Sätze. Das ist die Art, wie Prosa zu leben, die zählt und Angst zu haben.

Aber was heisst zählen? Zählen fängt beim Einzelnen an und das ist nicht eins, sondern etwas im Unterschied zu etwas anderem, fängt also bei dem an, was im Einzelnen auch noch da ist und dann haben wir etwas dazugezählt und das macht Zählen aus und gibt mehr als eins. Zählen ist eins und eins, was bekanntlich drei macht. Nämlich eins und eins und das, was von beiden nicht eins ist, sondern ein drittes. Auf die Wörter der Prosa bezogen heisst das, jedes Wort ist zu zweit. Zumindest ist jedes Wort mehr als ein Wort. Zumindest trägt es in sich noch ein anderes Wort, träumt davon, ein anderes Wort zu sein, zu einem anderen Text zu gehören, in einer anderen Geschichte vorzukommen, – kurz: ein anderes Leben als Wort zu haben, und das ist, was zählt und lebt.

Der französische Dichter René Char sagt, wir brauchen für jedes Wort zwei Wörter; eines, um in ihm wegzugehen und eines, um in ihm wiederzukommen. Das ist eine schöne Vorstellung von uns und den Wörtern, in denen wir kommen und gehen, uns begrüssen und verabschieden und das ergibt einen Raum, den die Wörter, kommend und gehend als Raum ihres Erscheinens und Verschwindens bestimmen. Und wir sind mit dabei, können uns also dazuzählen und müssen nicht wieder nach Hause gehen.

Nach meiner Zählung sind wir jetzt schon bei drei, und können sehen, dass jedes kleinste Wort zählt, wenn es um das Leben der Prosa geht. Wenn nicht, dann zählt die Prosa nicht. Das ist übel. Eine nicht zählende Prosa lebt nicht und sollte hier auch nicht weiter Beachtung finden, das tut sie anderweitig schon genug.

Eins und eins also, das ist Zählen und das ist Denken. Und beides ist aufregend. Und was aufregt, hält uns in Atem. Jacques Derrida, ein anderer Franzose, schreibt in einem Text zu Foucault, dass nur die, die arbeiten, Schwierigkeiten bekämen und vielleicht darin dazu fänden, Verantwortung zu übernehmen. Schwierigkeiten bekommen ist Arbeit. Arbeit ist Verwandlung. Beispielsweise die Verwandlung von keiner Schwierigkeit in eine Schwierigkeit. Das ist wie mit der Last, die wir tragen, und die weiter zu ertragen erst dann unmöglich wird, wenn wir sie abgelegt haben. Das heisst, so lange wir sie tragen, ist unsere Last eine Möglichkeit. Ob wir sie nun als Last wahrnehmen oder nicht. Sie abzulegen bedeutet, sich der Erfahrung einer Unmöglichkeit auszusetzen, die wir auf uns nehmen, als wäre sie eine Möglichkeit. So ist das mit den Schwierigkeiten und der Kunst, sie zu machen.

Mit zählen kann nicht rechnen gemeint sein. Zählen rechnet nicht, zählt nur. Was zählt, geht nicht auf, wie Leben auch nicht aufgeht. Und was wäre das für eine Prosa, die aufginge wie eine Gleichung? War das nicht schon in der Schule das Langweiligste, sobald man merkte, die Gleichung ging auf? Interessant war es nur vorher, als noch alles offen stand und jede Bewegung zählte. Bei Prosa ist es auch so. Prosa, die aufgeht, ist gut und schön. Interessant wird sie erst, wenn sie sich aufmacht, das Fürchten zu lernen.

Roberto Bolano sagt auf die Frage, was gute Prosa sei? Na eben die, die sich gefährde, die den Kopf ins Finstere stecke, in die Leere springe und darum wisse, dass es sich bei der Literatur um etwas Gefährliches handle, gefährlich für den, der sie schreibe.
Vom Heimweh geht eine Gefahr aus, die, wie das Unheimliche, immer schon Teil des Heims – oder der Form – ist, zu dem sie zurückruft oder heimsucht. Dem Heimweh mit Heimkehr zu begegnen wäre das Ende der Gefahr und ihr völliger Sieg zugleich.

Wo also geschehen die Abenteuer? Wo brechen wir auf, das Fürchten zu lernen, was auch eine Art ist, das Zählen zu lernen und zu lernen, was zählt? Und sind das nicht wir, die sich aufmachen, den Kopf ins Leere zu stecken, gerade weil wir zählen?
Wer, wenn nicht wir, schriebe unsere Geschichte, die vielleicht die Geschichte eines Heimwehs werden wird, aber das wäre eine andere Geschichte als die des Ãœbels der Prosa, das nicht das der Prosa ist, die zählt und lebt.
Wir können nicht die Geschichte dessen machen, was wir machen. Wir sind ein Teil davon. Und diese Teilhabe ist unser Leben; ungewiss, ob wir eingetroffen sind, ungewiss, ob wir unser Leben leben oder das einer Geschichte, die vor uns geschah und uns mit sich schleift wie törichte Zuschauer.
Es liegt an uns, den Raum dessen, wie wir wissen können, so offen wie möglich zu halten, das heisst, der Sprache, die vor uns da war und nach uns sein wird, das Wort zu lassen.

Seit einiger Zeit schreibe ich an einem Projekt mit dem Titel: Die Wörter sind wir.
Die Wörter sind wir, bezeichnet eine Einräumung von möglichen Zusammenhängen, von denen ich noch nicht weiss, was für eine Geschichte sie ergeben. Denn wer wir sind, woher sollen wir das wissen, wenn nicht von den Wörtern und was sie uns sagen, was wir von uns wissen können. Und was wir von uns wissen können, ist, wie wir uns wissen können, Wort für Wort. Darum sind die Wörter wir. Wer denn sonst?
Prosa ist der Raum eines Wir, der sich im Kommen und Gehen der Wörter hervorbringt und zählt. Und das wird vielleicht die Erzählung dieses Raums, der wir sind, insofern wir in ihm auf das hören können, was noch kommt.

Friederike Kretzen, September 2010