Archiv der Kategorie: Essays

ÜBER DAS UNVERFÜGBARE

»Man kann alles machen / ausgenommen die Geschichte dessen, was man / macht.« Das sagt Godard und wirft ein schönes Licht auf folgende Überlegungen: Was hat das Vergegenwärtigen der Literatur mit dem zu tun, was wir Gegenwart nennen? Was bedeutet der Ruf nach dem Gegenwartsroman, der Bezug der Literatur auf das, was wir Gegenwart nennen? Was ist das, was kann das sein hinsichtlich des grundlegenden Vermögens der Literatur zu vergegenwärtigen? ÜBER DAS UNVERFÜGBARE weiterlesen

RASANTES PROJEKT

STARKE ERFAHRUNGEN SIND NIEMALS BESÄNFTIGEND.

Das sagt Henry James. Ich möchte darum und unter dem Segel einer nicht zu besänftigenden starken Erfahrung an dieser Stelle, wo wir uns etwas Endlosem zuwenden und am Ende stehen von etwas, das nicht das Ende ist und nicht zu Ende, von einem Projekt berichten, das unter diesem Dach stattgefunden hat, und das mir seither in seiner Gewagtheit und Tollkühnheit immer unwirklicher vorkommt. So dass ich mehr und mehr geneigt bin zu denken, ich hätte mir das alles nur ausgedacht und erträumt. Doch es hat dieses Projekt der WEISSEN SEITEN gegeben. Unser einziger Irrtum war, anzunehmen, so ein Projekt machen zu können. Dabei war es umgekehrt, es hat etwas mit uns gemacht. Was, das werden wir vielleicht eines Tages wissen, wenn wir schon lange nicht mehr da sind. RASANTES PROJEKT weiterlesen

Die blauen Hunde von Dharavi / NZZ 29.5.13

Im grössten Slum von Mumbai kann man den Menschen bei der Arbeit an der Globalisierung zuschauen.
Von Friederike Kretzen

Ich habe blaue Hunde gesehen. Sie leben im Zentrum von Mumbai. Ihr Fell ist einmal weiss gewesen mit hellbraunen Flecken auf dem Rücken. Dann haben sie – wie Hunde das tun – von dem Wasser getrunken, das in flachen Rinnsalen durch die Gassen sickert, und sie sind blau geworden. Bis zu den Ohrenspitzen. Auch das Weiss ihrer Augen. Seitdem sind sie die blauen Wächter eines Stadtgebiets, das sie bewohnen und hüten, denn sie sind ja Hunde.
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Zu Max Ernst NAISSANCE D’UNE GALAXIE / BAZ 24.5.13

Lucy in the Sky with Diamonds, – die Beatles sagen, mit LSD hätte diese ihre Lucy nie was zu tun gehabt – doch wie auch immer, sie lag in jenen Jahren in der Luft, in der auch dieses Bild zu schweben scheint. Das Bild einer Sternennebelgeburt, mehr Raumschiff als Bild und wie jede Geburt und jedes Bild eine Art Fahrt ins Blaue. Kleiner Ausflug also, früher Morgen im Universum. Wir haben uns lautlos aufgemacht, treiben hoch über dem Horizont in engem Bildrahmen, an den Seiten zusammengestaucht, weiter nach oben mitten im Geburtskanal. All das geschah, als ein paar Menschen ihre Füsse auf den Mond stellten, und die Träume der Erde von ihrem Muttertrabanten abgenabelt wurden.
Zu Max Ernst NAISSANCE D’UNE GALAXIE / BAZ 24.5.13 weiterlesen

Vom Anlachen der Besinnung | WOZ vom 13.10.11

Es soll Gegenden geben, die der Mensch im Herzen trägt, die noch nicht existieren. Gegenden, in die der Schmerz eintreten muss, damit es sie gibt. Ob sie etwas mit Besinnung zu tun haben? Wie kommen wir zur Gegenwart und zur Besinnung? Gibt es ein Erkennungszeichen dafür? Offensichtlich braucht es Aufmerksamkeit, Bereitschaft für Bedeutungen, die offen sind, noch nicht festliegen. Ein Text über die Kraft der Fantasie und die Arbeit der Literatur.

Vor kurzem sass ich mit meiner Kollegin Eleonore Frey zusammen. Wir sprachen über das Leben, das Schreiben und was dabei die Gegenwart sein könnte. Da ich gerade ein Manuskript abgeschlossen habe, mich also plötzlich ausserhalb eines Textes wiederfinde, in dem ich ein paar Jahre gelebt habe, und da sie mich und diesen Zustand gut kennt, sagte sie mir: Du musst dir jetzt erst einmal wieder Löcher in die Gegenwart beissen. Was stimmt.
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Giacomettis Zimmer | Surrealismus in Paris, Expo Beyeler | 1.10.11 BAZ

Ist dies eine Zeichnung? Oder ein Plan zur Begehung des Unzugänglichen? Auf André Bretons Frage, was sein Atelier sei, soll Giacometti gesagt haben: Zwei kleine Füsse. Hier gehen sie. Rue Hippolyte Maindron, Weltraum. Von hier laufen Linien aus, hierher kehren sie zurück, kreuzen sich, bilden Flächen, empfindliche Häutchen, Schleier, Fetzen des grossen Segels. In ihrer Mitte wacht der Palast der Winde, Leuchtturm der Artisten. In seiner Takelage hängt eine unzulässige Mannschaft: ein Wurm, eine Sängerin, ein Trapezkünstler, und einer, in der obersten Kammer, übt den Aufflug. Es sind die Nachfahren von Hieronymus im Gehäuse, dessen Löwe liegt als Blitz getarnt auf dem Boden. Er wird niemanden hinauslassen.
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Das Übel der Prosa ist nicht das Übel der Prosa

Zählen und leben, heisst es irgendwo bei Handke, und das ist, was Prosa macht. Sie zählt und lebt und das ist, was zählt und was lebt, wenn wir Prosa schreiben. Oder an Prosa denken. Das Ãœbel lassen wir hier mal beiseite, weil es nicht das der Prosa ist, sondern eine Art Heimweh, das die Prosa heimsucht und dann wird sie ganz eng und fürchtet sich, den Leser aus den Augen zu verlieren oder den Plot nicht im Griff zu haben, wo doch Augen und Griffe für ganz was anderes gebraucht würden beim Schreiben und Zählen von Prosa, die lebt oder der es ums Leben geht, was auch immer das sein mag. Das Übel der Prosa ist nicht das Übel der Prosa weiterlesen

Schreibarbeit: Präzision der Sprache als Forschungsfeld der Literatur

In den Natur- und Technikwissenschaften werden Experimente aufgestellt, Gleichungssysteme analysiert und Theorien formuliert. Ergänzend dazu soll in der Veranstaltung „Schreibarbeit“ der Präzision einer literarischen Textanlage, ihrer Wortwahl und Evidenz nachgegangen werden.
Mit einem literarisch verfassten Text unterwerfen wir uns ebenfalls einer Versuchsanordnung und wir erforschen, was sich aus der spezifischen Anordnung seiner Teile in der Durchführung des Textganzen ergibt. Diese Form der Schreibarbeit führt von der Frage: Was will ich schreiben? zur Frage: Was schreibe ich?
Wie unterscheiden sich solche Vorgehensweisen der Literatur vom Sprachgebrauch der Naturwissenschaften? Schreibarbeit: Präzision der Sprache als Forschungsfeld der Literatur weiterlesen