„Bretter ohne Welt“ FAZ vom 23.01.13

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Grosses Lob spendet Rezensentin Irene Bazinger diesem Roman über drei junge Menschen am Theater im Sommer 1982. Alle drei sind tagsüber mit der Produktion von Theaterstücken beschäftigt, abends sprechen sie in der gemeinsamen Küche über ihre Arbeit, so Bazinger. Nichts Dramatisches geschieht, doch diskutieren die drei so angeregt darüber, wie ein antiautoritäres, politisches Theater „ohne feste Aggregatzustände“ – selbst der Tod wird abgelehnt – aussehen könnte, dass Nostalgie gar nicht erst aufkommt, lobt Bazinger.
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Bretter ohne Welt
Friederike Kretzen hat einen Theaterroman verfasst

Was auch immer im Theater passiert oder nicht passiert, eines findet gewiss statt: Die Zeit vergeht. Das bringt es dem Leben so nahe. Wer über Theater schreibt, hat es stets mit Konstellationen zu tun, die strukturell im Fluss sind. In ihrem schönen Buch „Natascha, Véronique und Paul“ setzt Friederike Kretzen die Leser deshalb wie in einem kleinen Boot dem Strom des Erzählens aus, der von drei jungen Menschen handelt, die es zum Theater treibt. Sie werden während jenes Sommers 1982 geschildert, als der Regisseur Rainer Werner Fassbinder verstarb, was die drei Hauptpersonen ziemlich verstört.

Sie kannten ihn zwar nicht persönlich, aber er ist für sie eine künstlerische Referenzgrösse, ebenso wie etwa Wim Wenders. Dessen Film „Der Stand der Dinge“ wird heftig kritisiert, denn darin müssen zwei Menschen sterben, nur damit die Geschichte aufhören kann – und das passt nicht zum antiautoritären ästhetisch-moralischen Konzept des Trios, in dem keine kreative Energie gestoppt und kein willkürliches Ende gebraucht werden sollen. Natascha, Véronique und Paul arbeiten nämlich auch deswegen beim Theater, weil es da keine Abschiede gibt und keiner wirklich stirbt, sondern man nach dem Applaus „noch was mit dem Toten trinken“ geht. In der Kunst liegt für sie die Freiheit von allen Zwängen – bis hin zu der vom Tod.

Véronique führt als Erzählerin durch den Roman und überlegt wiederholt, über diesen für sie alle überaus wichtigen Sommer zu schreiben. Sie ist Dramaturgin und begleitet eine freie Produktion, Paul hat eine Regieassistenz hingeschmissen und wird irgendwann Intendant sein, Natascha ist Regisseurin und mit ihrer ersten eigenen Inszenierung beschäftigt. In deren Küche in Köln treffen sich die drei allabendlich und sprechen über ihren Alltag und ihre Visionen, über das viele, das sie verbindet, und über das wenige, das sie trennt. Es ist eine utopische Gemeinschaft ohne Ãœbelwollen oder böse Worte. Noch keine dreissig Jahre alt, verfolgen sie voller Idealismus einen damals verbreiteten Begriff von politischer Kunst, egal, ob sie diese im Théâtre du Soleil der Ariane Mnouchkine, in den Schriften Rolf-Dieter Brinkmanns oder in den Filmen Jean-Luc Godards zu erkennen glauben. Indem sich die Freunde auf der Bühne eine fiktive Welt nach ihren Wünschen zu erschaffen versuchen, setzen sie sich zugleich zum realen Umfeld in ein distanziert-dynamisches Verhältnis und definieren sich als autonome Geschöpfe.

Die 1956 in Leverkusen geborene Friederike Kretzen leitet seit 1996 die Schreibwerkstatt an der ETH Zürich und verfügt über praktische Theatererfahrungen, die möglicherweise für ein paar autobiographische Bezüge sorgen. Was ihren poetisch-intensiven Roman freilich so lesenswert macht, ist neben der eindrucksvoll komprimierten Sprache die Abwesenheit sämtlicher Anflüge von Nostalgie. Natürlich geht es um Jugend und Erwachsenwerden, um die „verlassene“ und gefundene Zeit, aber stets mit einem staunenden, animierend freisinnigen Blick zurück – kaum einmal wehmütig, nie sentimental.

Spektakuläre Dinge tragen sich in diesem Buch nicht zu, doch sind die Gefühle, Wahrnehmungen, Entwicklungen, die Friederike Kretzen voller Empathie und dabei präzise wie unter einem Mikroskop ausbreitet, dermassen konzentriert und spannend, dass sie sich zu einem grossen Abenteuer zusammenfügen. Die Erinnerungen fluten wie selbstverständlich und unaufgeregt zwischen Reflexion und Aktion, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie überlagern und unterbrechen einander, formieren sich zu einem minutiösen, lyrisch-anrührenden Kaleidoskop aus Bildern, Gerüchen, Stimmungen. Bloss manchmal sind die Rückblenden ein bisschen ungenau – Janis Joplin singt dann statt „Me and Bobby McGee“ von „Bobby McGhe“, und die Szenen aus Edward Bonds Stücken „Die See“ und „Gerettet“ vermischen sich.

Davon abgesehen, gelingt Friederike Kretzen ein wundersam träumerischer, stilistisch bravouröser Roman über die Zeit als Kategorie permanenter Entgrenzung und das Leben als oszillierende Geschichte ohne feste Aggregatzustände. Am Schluss bedeutet der Grundsatz „Alles fliesst“ hier fern jeder Ãœberheblichkeit: „Und wir gingen auseinander und hatten keine Angst zu sterben.“

IRENE BAZINGER.

Friederike Kretzen: „Natascha, Véronique und Paul“.

Stroemfeld Verlag, Frankfurt am Main und Basel 2012. 210 S., geb., 19,80 [Euro].

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