Besprechung Weisses Album: Freitag 12 / 23.3.07 / Werner Jung

Zunächst und zumeist: ein schwieriger Text, den Friederike Kretzen da vorgelegt hat, sperrig und irritierend, ja verwirrend. Und daher anstrengend. Kein Pageturner, nichts, um darin ab- und wegzutauchen. Sondern ein Erzähltext, wenn man so will: ein Roman, der höchste Aufmerksamkeit und Konzentration verlangt, aber auch dann noch ob seiner kaskadischen Bilderfluten den Leser arg strapaziert. Doch dann steigen aus dem Wörtermeer Szenen und Bilder von geradezu betörender Sinnlichkeit und schmerzhafter Schönheit auf.

Worum es geht? Um eins und alles, Gott und die Welt, die Geschichte(n) einer Generation. Denn die drei Frauen Gitti, Elschen und Hannah sind Freundinnen seit gemeinsamen Kinder- und Jugendtagen und erzählen sich – alternierend, „sagt“ Gitti, „sagt“ Hannah, „sagt“ Elschen – Episoden, Geschehnisse und Widerfahrnisse aus ihrem Leben. Dreissig Jahre nach ihrem Abitur, das sie, 1956 geboren, Mitte der siebziger Jahre abgelegt haben. Drei Freundinnen, die zu Schulzeiten das Drama Drei Schwestern von Cechov einstudiert haben, einen Text, der auch als Passepartout für die Entwicklung der Freundinnen verstanden werden kann. Sie stammen nämlich ebenfalls aus der Provinz – nicht aus Perm, wie bei Cechov, sondern aus Leverkusen. Und die Sehnsucht nach einem Ausbruch und Aufbruch in die grosse Stadt, sei´s nun Moskau oder – faute de mieux – Köln winkt im Hintergrund.

Leverkusen ist überall, der Schlaf der Provinz allgegenwärtig: „Da ist der Hof meiner Grossmutter, sagt Hannah. Mitten in der Stadt, gegenüber dem Bayerwerk, das später kam. Das Haus voller Schlafmänner. Liegengeblieben wie wir, betäubt, verdeckt. Sie träumen einen Baum, wie ein Baum nicht mehr zu sehen ist, und wenn sie aufstehen, zur Arbeit gehen, am Abend zurückkommen, um dann wieder liegengeblieben zu sein, betäubt wie nie, so steht da der Baum, wie er vor zweihundert, dreihundert Jahren wuchs und sich im Rhythmus der Jahreszeiten bewegte, so ist es seine Gewohnheit gewesen. Er ist ihnen gefolgt und legt sich zu ihnen in eines der Betten im grossen Schlafsaal der Geschichte.“ Wer hier steckt, der bleibt stecken, tief drin. No escape.

Jahrzehnte später: „Das Haus meiner Grossmutter hat keine Augen mehr, sagt Hannah. Die Glieder amputiert, steht da, zusammengeschlagener Torso, die Fassade besprayt: Wer besorgt mir eine Frau mit Riesen. Jetzt ist auch das verkohlte Dachgebälk weggerissen, der Torbogen liegt auf der Erde. Am Ende des Hofes, an der Stelle der Scheune ein klaffendes Loch, durch das der Blick auf den Bunker und das flache Gebäude des Katholischen Kindergartens fällt, in dem die Kinder liegen und schlafen wie wir.“

So sitzen die drei Freundinnen zusammen und erzählen sich ihre Leben, ihre Möglichkeiten und bilanzieren zugleich die Verluste. Kindliches und jugendliches Begehren, Klassenfahrten und eine Reise nach Griechenland als Belohnung fürs bestandene Abi, dann erste Erfahrungen mit Männern, der unvermeidliche Politzirkel (ja, auch in der Provinz), Erwartungen und Enttäuschungen: „Ich sitze im Haus von Elschen, Jahre später, sagt Gitti. Elschens Bruder ist da, unser Politarbeitskreis, wir lesen Lenin. Müde, fast betäubt halte ich die Augen auf, schaue von fern, wie alles zu Ende geht, die Geschichte der Russischen Revolution, der Deutschen Kommunistischen Partei. Ich werde von der Vorstellung, wie die Geschichte von allen Seiten her immer wieder auf ein unmögliches Ende zuläuft, weggespült.“

Ein Generalbass klingt durch, grundiert die Reden der drei Freundinnen, deren Stimmen sich kaum voneinander unterscheiden (wie Psychologie in diesem Roman überhaupt keine Rolle spielt): die als leidvoll empfundene Erfahrung, Angehöriger einer Generation zu sein, die irgendwo in einem Zwischenreich beheimatet ist, also keine wirkliche Heimat hat, kein „transzendentales Obdach“ (Georg Lukács). An einer Stelle heisst es einmal: „Wir waren in Geisterbahnen grossgeworden.“ Das meint eben zweierlei: zum einen die wirklichen Geisterbahnen auf der rheinischen Kirmes, zum anderen aber und in übertragener Bedeutung auch die Orientierungslosigkeit und Dunkelheit.

Ganz zum Schluss resümiert Elschen noch einmal: „Träumen wir, schlafen wir mit geschlagenen Wurzeln, sagt Elschen. Als gingen wir durch unseren eigenen Wald, der in die andere Richtung gewachsen ist. Wir sind nicht elf Jahre nach dem Krieg geboren, sondern gestorben. Wir können uns des Gefühls nicht erwehren, uns in einem längst beschriebenen Traum zu bewegen, in dem wir träumen zu schlafen. In den Sätzen, in denen wir heranwuchsen. Träumt nicht. Träumend kommt ihr nicht auf die Welt. Wir leben doppelt, dreifach, für zweimal, dreimal. In der Erde und auf der Erde.“

In immer neuen Anläufen beschreibt Friederike Kretzens Roman diese Generationserfahrung; dabei verschaltet sie die verschiedenen Zeitebenen miteinander, lässt ihre Protagonistinnen zurückblicken, dann wieder gegenwärtige Erlebnisse mit Beobachtungen und Reflexionen versehen. Der Text gleicht einem Teppich – jenem „Teppich des Lebens“, den schon die frühen Lebensphilosophen zu Beginn des 20. Jahrhunderts und einer ihrer bevorzugten Autoren, Stefan George, besungen hat -, in dem komplizierte, aber regelmässige Muster erkennbar sind. Man könnte auch sagen, dass er in die Breite geht, dass es ihm um seine (Text-)Oberfläche, assoziative Annäherungen, mäandernde Abwärtsbewegungen geht, nicht dagegen um Teleologie, Plotstruktur oder erzählerische Stetigkeit. Rundheraus gesagt: ein Text, der die Möglichkeiten einer (strikten) Bewusstseinsprosa auslotet und seine Leser versucht, in die (an der Oberfläche tief verborgenen) Kavernen des desillusionierten Bewusstseins einer ganzen Generation hineinzuziehen.

Wäre es doch nur so, dass man vorwärtsschreiben könnte, „eins zu eins und nacheinander“, wie Hannah sich äussert, bis man sich von hinten wieder begegnet: „Vorne, gleich an der Kante, wo unsere Ansichten in jener doppelten Bewegung aufkreuzen, die mich darüber erschrecken lässt, wie sehr das, was ich im Begriff bin, auf das Blatt zu schreiben, von der Rückseite über mich hereinbricht.“ – Zu spät! Jedenfalls für Angehörige jener „Zaungäste der Geschichte“, als die vor einigen Jahren der Journalist Reinhard Mohr in einem Grossessay einmal die „78er Generation“, die „nach“ der Revolte kam, bezeichnet hat.