Bericht WEISSE SEITEN Treffen vom 11./12.12.09 in Romainmôtier

Nach langen Ãœberlegungen, wie der Bericht über das erste Treffen der WEISSEN SEITEN so zu schreiben sein könnte, dass sich in ihm etwas von der Erfahrung, die wir bei unserem Treffen machen konnten, vermittelte, fiel mir die Arbeit von Hiroshi Sugimoto, die er THEATERS nennt, ein.
Er fotografierte in den glamourösen amerikanischen Lichtspieltheatern der 30er Jahre und in den Autokinos der 50er Jahre jeweils ganze Filme. Die Belichtungszeit dauerte so lange wie der Film. Dabei zogen tausende Einzelbilder vorbei und schwärzten das Negativ. Im Abzug erscheint dann die Filmleinwand als strahlende weisse Seite, die den Raum illuminiert.

In diesen Fotografien leuchtender weisser Filmleinwände, in denen der gesamte Ablauf eines Films zwar nicht sichtbar, aber als Licht anwesend ist, sehen wir etwas, das wir ohne diese Fotografien nicht sehen könnten. Wir sehen nämlich verschiedene Zeiten, verschiedene Räume, Handlungen und Bewegungen aufgehoben und bewahrt im leuchtenden Weiss der Leinwand. Wir werden also etwas ansichtig, das imaginär ist, und dieses Imaginäre ist eine Konzeption.
So wie Sugimoto in diesen Fotografien am Imaginären arbeitet, haben auch wir uns einer Konzeption des Imaginären und einer Imagination eines Konzepts als WEISSE SEITEN ausgesetzt.

Es war klar, dass dieses Treffen ein grosses Wagnis sein würde. Allerdings ein Wagnis, das es uns erlauben würde, denken, sprechen, diskutieren wieder als das erleben zu können, was es in Wirklichkeit ist: gefährlich für die Denkenden.
Und in der Tat, wir haben miteinander ein Gespräch geführt, das aus vielen verschiedenen Gesprächen bestand, die sich in unterschiedlichen Tempi und Rhythmen bewegten. Immer wieder gab es ein Innehalten der Teilnehmenden, ein Lauschen sowohl auf das, was gesagt worden war, wie auch auf das, was als nächstes gesagt werden könnte. Das waren intensive Momente, in denen durch ein Zögern, ein Verharren und Verlangsamen sich die Anwesenheit von etwas anderem einmischte. Vorgänge, durch die Zusammenhänge anders als gewohnt wahrnehmbar werden konnten.

In drei thematischen Blöcken haben wir uns immer wieder dem Wagnis einer nicht ergebnisorientierten, einer vagen, kreisenden Gesprächsbewegung geöffnet und zunehmend anvertraut.

Nach einem ersten Durchgang, in dem wir ein wenig unsere jeweiligen Positionen, Herkommen und Motivationen für ein gemeinsames Projekt wie das der WEISSSEN SEITEN darstellten, diskutierten wir am Abend darüber, wie der Begriff einer Zugehörigkeit, die uns vor jeder anderen Bezüglichkeit in etwas verortet sein lässt, auf unsere jeweilige Arbeit und Auseinandersetzung bezogen werden könnte? Wem und was hörten wir zu?
Der französiche Philosoph Jean-Luc Nancy entwickelt aus einem Denken der Zugehörigkeit als Land – „Noch vor jeder anderen Beziehung zum Land, ist man bereits im Land.“- eine unablässige Praxis der Aneignung von Zugehörigkeit, die diese eben ausmache. Eine zudem unabschlissbare Praxis, die er als Handwerk fasst, das nicht nur den Gegenstand, sondern auch Raum und Zeit bearbeite. Und diese Praxis kann in der Stadt, im Land, im Denken und in der Kunst stattfinden; eine Praxis, die nicht nur herstellt, sondern auch bestellt, die kommen und gedeihen lässt.
Dieser Begriff der Zugehörigkeit, die als eine vorgängige Beziehung, die vor jedem irgendwo sein, uns in etwas sein lässt, dem wir zuhören, vorgeschlagen worden war, löste recht heftige Widerstände aus. Die auch eine Art des Zuhörens und Sich Beziehens sind.

Den nächsten Morgen starteten wir mit der Frage nach den Notwendigkeiten, die wir in unserer Arbeit erfahren und bearbeiten. Was brauchen wir für unsere Arbeit? Was wäre aufgebbar und was um keinen Preis? Kafka formulierte eine, bzw. seine Antwort auf solche Fragestellungen in einem Brief an Oskar Polka vom 27. Januar 1904 zum Beispiel so: „Mein Gott, glücklich wären wir eben auch, wenn wir keine Bücher hätten, denn solche Bücher, die uns glücklich machen, könnten wir zur Not selber schreiben. Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder verstossen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord, ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“
Das Kafka-Zitat – wie am Abend schon der Begriff der Zugehörigkeit – bot die Möglichkeit der Abstossung und damit der Distanz nicht nur zur Notwendigkeit, sondern auch zu der Heftigkeit, mit der so ein Kafka Zitat notwendig nach uns greift.

In einer dritten und letzten Diskussionsrunde sprachen wir über ein Zitat von Roland Barhtes, in dem er den Roman als Praxis des Kampfes gegen die Trockenheit des Herzens bezeichnet. Ein Zitat, das ich zum Anlass genommen hatte, sowohl über die Trockenheit des Herzens als auch über den Kampf dagegen sprechen zu wollen. Denn über Empfindlichkeit als etwas, für das es zu kämpfen gilt, zu sprechen, ist beinahe noch mehr als ein Wagnis. Und diesen Kampf um Empfindlichkeit, um Lebendigkeit zu führen und darüber zu sprechen, wie er zu führen sein könnte, ist eine Praxis der Bejahung. Der Bejahung auch der ureigensten Mittel der Kunst, wie sie in dem, was uns als Kunst gegenwärtig angetragen wird, immer weniger am Werk zu sein scheinen.

Die Reflektionsanlage der WEISSEN SEITEN ist nicht nur eine doppelte, sie hat auch die Arbeit an zwei Seiten im Sinn. Das ist eine ästhetische Methode und bedeutet, eine Auseinandersetzung aufzunehmen, die sich als Aufnahme der Auseinandersetzung versteht. So dass das, worüber wir uns auseinandersetzen, das ist, was wir auseinandersetzen. Zugleich, und das macht vielleicht die Arbeit an zwei Fronten aus, geht es auch darum, all das, was uns gegenwärtig beschäftigt, als etwas wahrzunehmen und zu beschreiben, was womöglich nicht die Gegenwart ist und was nicht einmal etwas mit uns zu tun hat. Aber mit was sonst? Können wir uns die Freiheit nehmen, so weit und so nah zugleich zu denken? Und wenn nicht, warum nicht?

Das erste Gespräch ist geführt worden, auf Wunsch der Teilnehmenden soll es fortgesetzt werden.
Das ist das Ereignis des ersten Treffens, – dass es fortgesetzt werden wird, dass es sich vermehren wird. Und vielleicht werden wir eines Tages, wenn wir an unser Treffen denken, sagen können: Da waren wir.

Friederike Kretzen 26.1.2010