Andenken

Onkel Karl war, lange nachdem er aus dem Krieg heimgekehrt war, eines Tages in die Schweiz gereist und hatte mir etwas mitgebracht. Eine Kiste zum Hineinschauen, wie es sie damals von allen als schön bekannten Orten gab, und sie sollten an diese erinnern. Meine Kiste war rot, und als ich später Howling Wolf das Lied ‚Little Red Rooster’ singen hörte, musste ich an sie denken. Auf der Rückseite befand sich das winzige Guckloch, durch das in die Kiste hineinzuschauen war. Als erstes Bild zeigte sich darin gleich der schöne Vierwaldstätter See. Auf Knopfdruck kam das nächste Bild zum Vorschein. Das war das Hotel Sonne, dem das Hotel Mond, auf der gegenüberliegenden Seite des Sees gelegen, folgte.

Die Bilder selbst boten nichts weiter als das, doch im Blick auf sie wurde ich auch der halbschwarzen Dunkelheit ansichtig, in der sie hausten, um auf Knopfdruck daraus aufzutauchen, angeschaut zu werden und wieder zu verschwinden. Diesen Blick in ein ungewisses Innere, das es ausserhalb dieses kleinen Kastens nicht gab, nirgendwo auf der Welt, brachten die Bilder mit sich und erlaubten mir ins Auge zu fassen, was nicht Fassbar war. Wunderbar oder wohltuend daran war, dass das nicht ich war, sondern etwas anderes; etwas wie Dunkelheit, Licht, Atem und ein leiser seufzender Ton. Und so unfassbar das war, so ansehbar war es in den sechs Bildern, zu denen auch der Ausflugsdampfer Louisa und die Kirche von Beckenried mit dem angrenzenden Friedhof gehörten. Ich konnte, – wie es so schön heisst – die Augen nicht mehr losreissen von jenem Unansehbaren zu Füssen der Ansichten von See, Hotel, Kirche, das sich dort irgendwo verbarg und auf Knopfdruck hochrutschte.

So geschahen meine ersten, frühen Ausflüge in Gegenden des Andenkens, die niemals vorzufinden waren in einem äusseren Land. Es sei denn, ich hätte vorher, vor jedem Blick, alles, was ich sehen konnte, und dazu gehörte auch alles, was ich nicht sehen konnte, hineingetragen in jenes Land. Das dieser kleine Fernseher mit sich brachte. Und zwar in Form einer ansehbaren und andenkbaren Verborgenheit. Und das war eine Form, in der ich mich mit allem, was ich sah, verbunden fühlte.

Wir kennen es alle, wenn im dämmernden Halbschlaf andere Bewegungen sich um uns herum ausbreiten; gleitende, zarte, huschende, die vom Licht kommen, von Schatten, Geräuschen, die sich auf den Wänden ausbreiten, auf dem Boden, die übers Regal rutschen und ein Zettel schaukelt zu Boden. Diese Bewegungen der Luft und des Lichts, Bewegungen, in denen sich Konturen und Ausmasse der Gegenstände im Raum unmerklich verschieben, lösen in mir, seit ich denken kann, eine Art Seekrankheit aus, die mir so äusserlich wie zutiefst verbunden zu sein scheint. Vielleicht hat das mit dem Atem zu tun, vielleicht mit dem Vergessen. Gewiss, so dachte ich damals als Kind, war der Vierwaldstäter See im Spiel, der immer schön genannte. Auch das Hotel Sonne mit dem auf der gegenüberliegenden Seeseite gelegenen Hotel Mond. Dann wusste ich, dass die Seekrankheit, die mich im Bett oder auf dem Sofa ereilt hatte, vom Dampfer Louisa kommen musste. Eine steife Brise wehte mich an, und mit Blick in den kleinen roten Fernseher konnte ich Onkel Karl an Deck stehen und zu mir herüberwinken sehen. Zum Andenken an ihn. Und in Begleitung von ihm sah ich den Zustand des Halbschlafs für mich geborgen, in dem sich Zeit und Raum berühren, ineinander übergehen, und sich eine Substanz bildet, in der ich mühelos – damals wie heute – über den Vierwaldstätter See gleite. Jede Andenkbarkeit hinter mir zurücklassend.