Überschreibungen mit einem ganz kleinen Pinsel aus Kamelhaar

Am Anfang unserer Gruppe war Veronique. Sie war Französin, kam aus Paris und eine Liebe hatte sie nach Köln gebracht. Die Liebe flog schnell. Er hiess Paul und sah wie ein grosser Argentinier aus mit dunklen, langen Locken. Dabei kam er aus dem Ruhrgebiet, studierte Medizin und fuhr für sein Leben gern in einem weissen Peugeot um die Stadt. So als wäre er ein Indianer am Amazonas, machte er grosse Bögen, immer auf der Jagd, immer bereit. Sie fuhren, kaum waren sie aus der Stadt heraus, durch Wälder, durch Auen, machten an den Ufern von Sieg und Ahr Rast. Es war noch Sommer, die Hitze konnte drückend und feucht sein. In den Gärten stand der eiserne Heinrich hoch und leuchtete gelb.
Veronique begann sich zu langweilen, das Herz wurde ihr schwer. Sie hatte Heimweh und wollte bei ihrer Liebe bleiben. Den Mann dazu liess sie eines Tages in seinem Urwald zurück. Es war Herbst geworden, die Spinnen hatten ihre Nester gebaut, der Winter stand vor der Tür. Und das waren die Gründe, das war Köln, das nannte sie ihre Liebe, während Paul wie eine Art Uhr weiter um die Stadt in der Rheinischen Tiefebene fuhr.
Mit blauer Farbe schrieb sie an die Wand über ihrem Bett: Don’t piss off the Fairies.
In diesem Gedanken wollte sie übernachten und legte sich in ihr Bett zum Schlafen. Da kamen Tisch, Bett, Tannenbaum. An der Wand liefen Bär, Schaf und Hund, dazwischen blühten Mohnblumen, im Holzboden schwamm ein Wal. Als sie erwachte, es war schon wieder hell, ein neuer Tag war angebrochen, hörte sie sich sagen: Was singt mir mein Kahn aus Wal im Haus so schön ein Lied vom Meer und wie auf ihm in einer Nacht zur See zu fahren ist im kleinen Gedanken. Daran wollte sie sich halten.
Nachdem sie gefrühstückt hatte, vor dem Fenster sah sie einzelne feine Schneeflocken niedersinken, gründete sie eine Bande für Radikale Romane. Denn, wie sie uns später immer sagte: Wir dürfen nicht vergessen, dass wir versuchen müssen zu leben.
Das erste Projekt der Bande sollte eine Zeitschrift sein, die in hektografierter Form im Winter 1975 erschien. Sie war dem Schlaf in einem kleinen Gedanken gewidmet. Einzige Autorin – Veronique.
Doch bald darauf kamen sie, die Anderen, die Weisen und Könige. Am Abend hatten sie den Kölner Dom erreicht, wo sie ihr Kamel an der Pforte abgaben und dem Domprobst zuriefen: Ein Bier für unser Kamel. Sie selbst suchten den Schrein mit ihren Gebeinen auf, legten sich ihm zu Füssen auf den Boden und sanken bald in einen seligen Schlaf, froh, wieder in der Nähe ihrer Gebeine zu sein. Sie waren mit dem Schnee hierher gekommen und mit dem Wissen, dass Schnee Erkenntnis bringt, warum das alles. Sie lagen Kopf an Kopf, hielten die Köpfe einander zugeneigt, auf ihren Gesichtern ein Lächeln, etwas huschte über sie hinweg, ein helllichter Tag vielleicht in tiefem Traum, ein Widerschein von etwas, das stattgefunden hatte, ein Gehen, Heben, Neigen. Und in ihren Händen hielten sie Teile eines Kometen, die sie selbst im Schlaf noch, mit geschlossenen Augen, hoch über sich hielten. Wie sie später Veronique sagten, wollten sie auch in der Nacht das Gefühl von Schneien im Herzen tragen.
Am Morgen, als sie erwachten, wussten sie nicht mehr, ob es der Morgen des vorhergehenden Tages war oder ein anderer. So nahmen sie ihre Schätze, verbeugten sich vor ihren Knochen und gingen Richtung Südstadt weiter. Sie suchten Veronique, fanden sie in der Mainzer Strasse 48, dritter Stock, wurden bei ihr vorstellig, denn sie hatten von ihrer Bande gehört und wollten Teil davon werden.
Veronique fragte sie nach ihrer Losung und sie sagten: Hüte dich, spielst du Gespenst, bist du bald eins. Doch spielst du nicht Gespenst, bleibst du eins.
Gut, sagte sie, denkt an das Rot bei Matisse, das Grün bei Delacroix.
Später gingen sie dann zusammen zu einem Griechen am Ubierring, der gab ihnen nach dem Essen Ouzu aus, jede Menge. Ihr erinnert mich an mein Dorf, sagte er und küsste sie auf beide Wangen, worüber sie sich freuten. Sie hatten sich vorgenommen, ausser sich zu geraten, um von dort her ihre radikalen Romane zu schreiben. Sie wollten raus, nach draussen, wo sie noch nie waren. Denn hier auf der Erde kam keiner raus, was am König der Hölle lag, sagten sie, der zwar seine Täuschungen blosslegte, diese aber hörten in der Blosslegung nicht auf zu täuschen. Karl Marx hatte gesagt, dass wir die Spitzfindigkeit nicht fürchten sollten, die es brauche, um diesen König der Hölle zu stürzen und die Teufelchen zu befreien. Diesen Satz hatten sie sich zu Herzen genommen und sie wollten ohne Furcht sein. Daher ihre Suche nach dem Draussen, wo sie noch nie waren, sogar mit ihren Schätzen, ihrem Kamel und allen ihren Gedanken nicht. Sie dachten an die Brocken eines Kometen, die sie mitgebracht hatten, dachten an die Schamanen, die Filmer, die Philosophen und Schriftsteller, die sie mochten, die immer von den zwei Körpern und den drei Seelen des Menschen ausgingen und die versuchten, auch wieder dorthin zurückzukehren. Das wollten sie auch. Doch sie wussten, dass nicht Wiederkehr sie empfangen würde, und Abfahrt wäre keine Befreiung.
Sie sagten sich, wer die Träumer ohne Maske sieht, stirbt. Dann machten sie das Licht aus, und sprachen im Dunkeln über das Leben und Schreiben. Dabei wurden sie immer wütender. Das war schon viel, das war schon mal viel mehr als sie sich je zu träumen gewagt hätten, sagten sie sich und wurden wieder ruhiger. Sie sprachen auch über ihre Texte, die sie in ihren Schatzkisten mitgebracht hatten und stritten über Metaphern. Beispielsweise die des Kamels. War die Metapher für Kamel Kamel? Und was war mit dem Nadelöhr, das einsam um die Welt ging? Wie sollte je eine Metapher daraus werden? Sie fanden das nicht in Ordnung und fragten sich, ob es auch etwas anders geben könnte als Metaphern? Einer von ihnen, er hiess Friedrich, fragte wie am jüngsten Tag, was ist Literatur? Und sofort sorgten sie sich, ewig gestrig zu bleiben. Niemals würden sie etwas erreichen, wenn sie jetzt erst am jüngsten Tag waren, war der denn nicht einer der ältesten? Was aber vielleicht auch mit Radikalität zu tun hatte. Verwässert sie mir nicht, rief Veronique in die aufgebrachte Runde. Und wie sie von da zu Trotzki gekommen waren, wussten sie nachher nicht mehr, aber Trotzki, sagten sie, soll zu Lenin gesagt haben: Die Wahrheit sei sehr einfach, sie zu sagen, sehr, sehr schwer. Dann schrieen alle auf und waren sich einig: Zu viele Liebesträume, zu viele Revolutionsmärchen, zu viele Wissensgebiete, zu viele Geschichten. Schliesslich setzten sie sich auf den Boden im Kreis und hielten still. Sie nannten das Brüten über das grosse Nichts ihrer Seelen. Das war eine Übung und sie liebten sie. Sie machten sie ganz für sich, ohne grosses Aufhebens und ihr Geist wurde weit und sinnlos und sie wussten, dass jede Minute ihres Brütens zählte.
Über dem Haus stand ein Mond, voll, gelb und matt. Er konnte glühen, das hatten sie schon gesehen, rot, braun, sogar blau manchmal, dann sah er, dann lebte er, dann war er nah. Dieser hier über ihnen allerdings war weit weg, wie abgewandt, schon kamen von der Seite Wolkenwände, weiss in der Nacht, von seinem fahlen Licht beschienen, die sich flach auffächerten, ausdehnten über den Himmel wie eine grosse Jalousie, hinter der sich die gelbe Ferne der Erde verbarg.
Auch am nächsten Abend gingen sie zum Griechen, er küsste sie gleich als sie eintraten, hob sie hoch und gab ihnen kleine Spiesschen mit Lammfleisch zu essen.
In dieser Nacht kamen sie zu folgenden Schlüssen: Die einfache Sprache war ein Traum. Diesem Traum wollten sie folgen und die Trägheit ihrer Herzen in Schwerkraft verwandeln.

Friederike Kretzen
Handbuch der Ratlosigkeit, L’arc Limmat, Zürich, 2014

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